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Ausgleichungspflicht und Herabsetzung wegen Pflichtteilsverletzung

Mein Vater ist verstorben. Drei Jahre vor seinem Tod hat er meiner Schwester seinen einzigen Vermögenswert (Haus samt Grundstück) geschenkt. Im Schenkungsvertrag hat er sie von der Ausgleichungspflicht befreit. Erbberechtigt sind neben mir meine Schwester und mein Bruder. Weil keine weiteren Vermögenswerte im Nachlass sind, erhalten mein Bruder und ich nichts. Was kann ich tun?

Vorliegend hat Ihr Vater nur pflichtteilsgeschützte Nachkommen hinterlassen. Nachkommen unterliegen für Schenkungen von Liegenschaften der Ausgleichung, sofern der Erblasser nicht ausdrücklich eine Befreiung von der Ausgleichungspflicht verfügt hat. Weil Ihr Vater Ihre Schwester ausdrücklich von der Ausgleichungspflicht befreit hat, muss sie die Schenkung gegenüber Ihnen und Ihrem Bruder nicht zur Ausgleichung bringen. Da es sich beim Haus aber um den einzigen Vermögenswert Ihres Vaters handelte, hat er durch die Schenkung mit Ausgleichungsdispens die Pflichtteile von Ihnen und Ihrem Bruder verletzt. Sie und Ihr Bruder sind somit berechtigt, die Herabsetzung der Schenkung auf das erlaubte Mass zu verlangen.

Der Herabsetzung unterliegen nämlich unter anderem die Zuwendungen auf Anrechnung an den Erbteil, als Heiratsgut, Ausstattung oder Vermögensabtretung, wenn sie nicht der Ausgleichung unterworfen sind. Unter den Begriff des Heiratsguts oder der Ausstattung fallen gemäss bundesgerichtlicher Rechtsprechung sämtliche Zuwendungen, die der Existenzbegründung, -sicherung oder -verbesserung dienen. Bei Grundstücken wird deren Ausstattungscharakter vermutet. Die Schenkung des Hauses hat Ausstattungscharakter und unterliegt aufgrund des Ausgleichungsdispenses nicht der Ausgleichung, aber der Herabsetzung wegen Pflichtteilsverletzung. Zudem unterliegen der Herabsetzung auch Schenkungen, die der Erblasser frei widerrufen konnte, oder die er während der letzten fünf Jahre vor seinem Tode ausgerichtet hat. Vorliegend erfolgte die Schenkung drei Jahre vor dem Tod des Erblassers. Auch gestützt auf diese Bestimmung könnten Sie die Herabsetzung der Schenkung verlangen.

Bei der Herabsetzungsklage ist zu beachten, dass diese mit Ablauf eines Jahres, nachdem die Erben von der Verletzung ihrer Rechte Kenntnis erhalten haben, verjährt. Diese Frist kann mit Einreichung eines Schlichtungsgesuches bei der zuständigen Schlichtungsbehörde am letzten Wohnsitz des Erblassers gewahrt werden.

Zusammenfassend ist festzuhalten, dass die Schenkung des Hauses aufgrund der angeordneten Befreiung von der Ausgleichungspflicht nicht ausgeglichen werden muss. Aufgrund der Überschreitung der Verfügungsbefugnis des Erblassers unterliegt die Schenkung jedoch der Herabsetzung und kann mittels Klage wegen Pflichtteilsverletzung von Ihnen und Ihrem Bruder geltend gemacht werden. Sofern die Herabsetzungsklage erfolgreich ist, muss Ihre Schwester, welche das Haus geschenkt erhalten hat, Ihnen und Ihrem Bruder als pflichtteilsverletzte Miterben die Differenz bis zum Pflichtteilsbetrag erstatten. Wichtig zu wissen ist, dass sowohl Sie als auch Ihr Bruder eine Herabsetzungsklage einreichen müssen. Wer nicht selber rechtzeitig Herabsetzungsklage einreicht, hat keinen Anspruch mehr auf den verletzten Pflichtteil.

Kurzantwort
Unentgeltliche lebzeitige Zuwendungen müssen bei der Erbteilung unter den Nachkommen nicht ausgeglichen werden, wenn der Erblasser sie ausdrücklich von der Ausgleichungspflicht befreit hat. Trotz einer solchen Ausgleichungsdispens ist jedoch die Herabsetzung der Zuwendung möglich, sofern durch die Zuwendung die Pflichtteile der Miterben verletzt wurden. Wird die Herabsetzung jedoch nicht innert der gesetzlichen Frist verlangt, so ist das Klagerecht verwirkt und eine Herabsetzung nicht mehr möglich.

(lic. iur. Marcel Vetsch, Rechtsanwalt und Notar, Fachanwalt SAV Erbrecht und Fachanwalt SAV Familienrecht, Luzerner Zeitung)