Der DDR-Flüchtling und seine Kinder
Unser Stiefvater (87-jährig) ist vor 6 Monaten verstorben. Unsere Mutter war vor 20 Jahren verstorben und damals ging ihr ganzes Erbe als Vorerbschaft an den Stiefvater. Meine beiden Schwestern und ich waren im Erbvertrag dafür als Nacherben eingesetzt. Nun hat sich nachträglich herausgestellt, dass der Stiefvater noch Kinder in der ehemaligen DDR hatte, welche er bei seiner Flucht aus der DDR vor über 60 Jahren zurückgelassen hatte. Wer ist am Nachlass des Stiefvaters erbberechtigt?
Ihre Schwestern und Sie sind Nacherben desjenigen Vermögens, welches damals vor 20 Jahren von Ihrer Mutter an Ihren Stiefvater als Vorerbschaft übergegangen war. Da Sie nicht leibliche Kinder Ihres Stiefvaters sind und von diesem weder im Erbvertrag noch in einem Testament begünstigt wurden, sind dessen Kinder in der ehemaligen DDR die Erben seines restlichen Vermögens. Eigentlich wäre die zuständige Teilungsbehörde damals beim Tod der Mutter verpflichtet gewesen, ein Nacherbschaftsinventar aufzunehmen. Dies ist leider unterlassen worden, weshalb es heute schwierig ist, zu ermitteln, was zur Nacherbschaft gehört und was nicht.
Wenn ein Ehepartner stirbt, ist vor der erbrechtlichen Teilung die güterrechtliche Auseinandersetzung vorzunehmen. Kann unter dem gesetzlichen Güterstand der Errungenschaftsbeteiligung kein Eigengut nachgewiesen werden, so ist vermutungsweise das ganze eheliche Vermögen Errungenschaft. Davon erhält der überlebende Ehepartner aus Güterrecht die Hälfte und die andere Hälfte fällt in den Nachlass. An diesem Nachlass Ihrer Mutter wäre Ihr Stiefvater in Konkurrenz mit Ihnen als Nachkommen nach Gesetz eigentlich nochmals zur Hälfte beteiligt. Ihre Mutter hatte aber mit Ihrem Stiefvater im Erbvertrag vereinbart, dass er zwar den ganzen Nachlass erhält, aber diesen ganzen Nachlass nur als Vorerbschaft. Dies hat zur Folge, dass Sie und Ihre beiden Schwestern am ganzen damaligen Vermögen der Eheleute zur Hälfte als Nacherben berechtigt sind (bei Eigengutsnachweis würde sich diese Quote „verschieben“).
Noch schwieriger wird es, zu beweisen, was aus dieser Nacherbschaft in den letzten 20 Jahren „geworden“ ist. Da Sie den Nachkommen aus der ehemaligen DDR ohnehin etwas zukommen lassen möchten, weil diese als Kinder eines Republikflüchtlings in der DDR eine schwere Jugend hatten, empfehle ich Ihnen, mit diesen soweit möglich eine gütliche Einigung zu erzielen. Dabei dürfte vor dem Hintergrund der güterrechtlichen Regelung eine „Fifty-Fifty“-Lösung, d.h. eine hälftige Teilung des heute noch vorhandenen Vermögens des Stiefvaters auf dessen Nachkommen einerseits und auf Sie und Ihre Schwestern andererseits, für alle Beteiligten die akzeptabelste Lösung sein. Falls dies nicht möglich ist, müssen Sie sich umfassende Unterlagen von den Steuerbehörden, der Teilungsbehörde und den Banken zu beschaffen, um den „Weg“ des Ihnen zustehenden Nacherbschaftsvermögens „rekonstruieren“ zu können, soweit dies überhaupt noch machbar ist.
(lic. iur. Marcel Vetsch, Rechtsanwalt und Notar, Fachanwalt SAV Erbrecht und Fachanwalt SAV Familienrecht, Seetaler Bote)